Der virtuelle Depp

Früher gab es ihn in fast jedem Dorf. Einen Menschen, den alle irgendwie seltsam fanden. Der Vorräte bunkerte, weil er die Apokalypse erwartete, der seine Wände mit Alufolie tapezierte, der nur nachts das Haus verließ oder unverständliche Verwünschungen vor sich hinbrabbelte. Einen Menschen, der zwar kauzig war, aber nicht weiter gefährlich. Der Rest des Dorfes nahm ihn mit Humor, er selbst fühlte sich einsam und war der Meinung, er sei der einzig Erleuchtete, der die Wahrheit hinter den Dingen erkannt hat. Aber da er allein war, fand er mit seinen kruden Theorien über die Welt kein Echo, fand keine Unterstützung.

 

Seit die Welt ein Dorf geworden ist, seitdem wir durch soziale Medien, facebook, Insta, Twitter und andere, viel dunklere Plattformen, zusammengewachsen sind, seitdem ist der Dorfdepp ein virtueller Depp geworden. Das wäre eigentlich gar nicht weiter schlimm, denn so verbreitet er seine Thesen über die Erde als Scheibe, über Chemtrails zur Betäubung der Bevölkerung, über Reptiloiden, die unsere Politiker befallen haben (deshalb zittert die Bundeskanzlerin übrigens bei der Hymne - der Reptiloid in ihr verträgt deutsches Liedgut so schlecht), über einen geheimen Plan zur "Umvolkung" nicht mehr betrunken in der Dorfgaststätte (wenn es denn noch eine gibt), sondern nur in obskuren Foren. Eigentlich. Denn das Schlimme ist, dass unser Depp im virtuellen Dorf auf ganz viele andere Deppen trifft. Und sich plötzlich gar nicht mehr ausgeschlossen vorkommt, sondern in seinem Denken bestärkt wird, Unterstützung erhält, weitere Puzzleteile zur Bestätigung seines Weltbildes findet. Und plötzlich ist es kein einzelner mehr, sondern eine ganze Gruppe, eine Bewegung, die sich zusammenfindet und tatsächlich an diese Verschwörungstheorien glaubt und als Grundlage ihrer politischen Arbeit nimmt. Wer braucht schon wissenschaftliche Belege oder wenigstens einen Hauch von Wahrscheinlichkeit, wenn so viele andere genau derselben Ansicht sind? Wer will Dinge schon kritisch hinterfragen, wenn er eine angebliche jüdische Weltherrschaftsverschwörung für alles verantwortlich machen kann. Denn letztlich enden so gut wie alle Verschwörungstheorien in antisemitischen Vorurteilen - fragen Sie den Rechtsterroristen aus Halle.

Dass seit einigen Jahren Verschwörungstheoretiker in großem Stile in die Parlamente einziehen, Prädidenten werden, für Ämter kandidieren und kompletten Blödsinn als politische Wahrheit ansehen, ist eine große Gefahr. Wie will ich mit jemanden vernünftig über Migrationspolitik oder Integration sprechen, wenn er fest davon überzeugt ist, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die sich heimlich zusammenfindet, um einen Austausch der deutschen Bevölkerung gegen vermeintlich leichter manipulierbare Gruppen vorzunehmen. Was an sich schon verwunderlich ist, denn Mitläufertum gab es in der deutschen Geschichte zur Genüge, da muss man niemanden austauschen.

 

Ich glaube, dass wir alle, Zivilgesellschaft, Politik, Sicherheitsbehörden und Schulen, zu lange weggesehen und diese Verschwörungstheoretiker belächelt haben. Aber es sind nicht mehr nur seltsame Einzelne im Dorf, es ist eine weltweite Bewegung, die sich in ihren Echokammern und Filterblasen radikalisiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Widerspruch erheben, sobald wir mit diesen kruden Vorstellungen konfrontiert werden. Ein Weglächeln der virtuellen Deppen reicht leider nicht mehr aus.