Unrecht ist Unrecht

Dieser Tage fühlten sich Bodo Ramelow (LINKE) und Manuela Schwesig (SPD) dazu berufen, sich zur ehemaligen DDR zu äußern. Beide vertraten die Auffassung, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, v. a., weil diese Bezeichung die Lebensleistung der ehem. Bürger*innen der DDR schmälere. Warum auch immer - denn das Unrecht der DDR war ja nicht Schuld der Ostdeutschen, diese waren vielmehr Opfer dieses Unrechts.

Ja, ich weiß, dass jetzt viele denken, dass sich noch ein naseweiser Wessi zur DDR äußert, ohne diese selbst erlebt zu haben, aber, was soll ich sagen? Als Historiker habe ich mich auch sehr intensiv mit dem Dritten Reich auseinandergesetzt oder mit Napoleon Bonaparte. Und meine Magisterarbeit behandelte die Wurzeln der Kreuzzugsbewegung - ohne dass ich gemeinsam mit Gottfried von Bouillon in Jerusalem einmarschiert wäre.  Insofern maße ich mir frecherweise tatsächlich ein Urteil an.

Gregor Gysi (LINKE) äußerte letztes Jahr in einem SPIEGEL-Interview die Ansicht, die DDR könne kein Unrechtsstaat gewesen sein, schließlichwäre das Unrecht ja im Gesetz gestanden. Ein interessanter Ansatz, allerdings nur, wenn man in Sozialkunde nicht aufgepasst hat. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen einem formalen und einem materiellen Rechtsstaat. Letzterer baut auf einem Fundament von Werten auf, von Menschenrechten und einem ganzen Korb an grundsätzlichen und unveräußerlichen Freiheitsrechten. Und eben diese Werte wurden in der DDR mit Füßen getreten. Was anderes als Unrecht soll es sein, wenn der Staat Widerworte und Kritik z. B. mit dem Entzug von Studienplätzen bestraft hat? Wenn Menschen, die ihre Meinung äußerten, in Gefängnissen verschwanden oder von ihren Familien getrennt wurden? Wenn friedliche Demonstrationen wie am 17. Juni 1953 mit Panzern beendet wurden? Wenn 1961 eine Mauer gebaut werden musste, um die Menschen im Land zu halten? Die Zahl der Geheimdienstmitarbeiter pro Bürger*in war in der DDR die höchste im gesamten Ostblock, höher als z. B. in der Sowjetunion. Wenn das alles keine deutlichen Zeichen für einen Unrechtsstaat sind, weiß ich auch nicht mehr.

Und ich glaube auch nicht, dass ein Ostdeutscher sich abgewertet fühlt, wenn die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet wird. Wie in allen Diktaturen gab es fanatische Unterstützer und Täter, Mitläufer, Widerständler und Menschen, die einfach nur versucht haben, sich mit den Umständen zu arrangieren. Mal abgesehen von den Tätern, hat sich niemand am Unrecht beteiligt oder dieses zu verantworten - ganz im Gegenteil, die breite Masse der Bevölkerung war ja gerade Leidtragender dieses Unrechts. Ich erinnere mich noch zu gut, wie meine Großtante aus Annaberg in Sachsen bei ihren selten Besuchen in ihrem Mieder Computerteile in die DDR schmuggelte - was dem Cousin meines Vaters 1990 ermöglichte, einen gut gehenden Computerfachhandel aufzubauen. Aber ihr Leben, der jahrelang unterbrochene Kontakt zu den Schwestern im Westen, den Mangel, den sich bei jedem Besuch bedauerte (obwohl sie uns Holztiere aus dem Erzgebirte mitbrachte, die immer noch an Weihnachten unsere Krippe bevölkern), das alles schränkte sie ein. Eben weil die DDR ein Unrechtsstaat war.

Jede und jeder, der dies relativiert, relativiert auch die Leistung der Ostdeutschen, die diesen Unrechtsstaat vor 30 Jahren friedlich zum Einsturz brachten. Statt wissenschaftlich längst entschiedene Debatten zu führen, um AfD-Wähler zurückzugewinnen, sollte man endlich damit beginnen, die Revolution von 1989 als das zu sehen, was sie tatsächlich war: Eine historische Leistung sondergleichen, die ohne Blutvergießen, in großer Solidarität und mit ganz viel Vernunft eine Diktatur in einen freien und demokratischen Staat verwandelt hat!